Mehr Selbstmitgefühl – das Wichtigste, was ich bisher gelernt habe, und warum es jeder lernen sollte | Jennifer Mense

Oft wird Mitgefühl mit Mitleid verwechselt. Mitleid bringt aber eigentlich keinem etwas. Wenn ich mitleide, dann empfinde ich den Scherz des anderen als wäre es mein eigener Schmerz. Aber wie sollen sich zwei Menschen helfen, die beide Schmerz empfinden? Mitgefühl bedeutet, ich bin in der Lage deinen Schmerz nachzuempfinden, ohne selber den Schmerz aktuell zu erleben. Ich kann mich aber in dich hineinversetzen und nachvollziehen, in welcher Lage du dich gerade befindest.

Das ist viel wertvoller, da ich gerade ohne Emotionen eine nüchterne Betrachtung deiner Situation vornehmen kann, die dir selber eben grade nicht so gut gelingt. Durch mein Mitgefühl kann ich einer anderen Person Unterstützung anbieten, was mir vielleicht nicht gelingen würde, wenn ich selber unter diesen Gefühlen leide. Ich bin nicht überwältigt von Gefühlen, die ich grade nicht unter Kontrolle bringen kann, sondern bin gedanklich klar und trotzdem ganz nah bei den Gefühlen des anderen. Aus dieser Perspektive bin ich eine wahre Stütze und nicht ein Betroffener. Wenn wir uns Mitgefühl näher anschauen, wird es oft mit dieser weiblichen Seite assoziiert, die Gnade und Verständnis vereint. Ein gütiger Blick auf eine Person oder ein Erlebnis, eben eine Weichheit, die sich wie ein Schleier über alles legt. Aber Mitgefühl kann sich auch durchaus in einer männlichen Energie zeigen, indem man ein klares „Nein“ zu einer Person oder Situation sagt. Ich setze klare Grenzen, bevor ich in eine emotionale Lage komme und nur noch gefühlsbetont reagiere, weil ich schon mit dem Rücken zur Wand stehe, auch das ist Mitgefühl – Selbstmitgefühl. Dieses Selbstmitgefühl ist häufig gleichzusetzen mit Selbstfürsorge. Selbstmitgefühl entsteht, indem ich mit mir und meinen Gefühlen und Bedürfnissen Mitgefühl habe. Ich verstehe warum ich diese Gefühle und Bedürfnisse habe und kann sie einfach DA SEIN lassen. Ich möchte sie nicht bekämpfen oder unterdrücken, sondern ich kann sie als einen wichtigen Teil meiner selbst anerkennen. Habe ich diese Erkenntnisstufe erreicht, kommt ein weiterer Schritt dazu: Ich trage für mich selber, also für meine Gefühle und Bedürfnisse, die Verantwortung. Zu schnell und zu leicht schieben wir unsere Verantwortung für uns und unserer Gefühle und Bedürfnisse und auch für Situationen von uns. Der Chef ist schuld, das Wetter ist aber auch mies, wieder hat mich jemand belogen oder betrogen, die anderen verstehen mich einfach nicht … Nur zu gut kenne ich diese Gedanken und habe selber lange Zeit daran geglaubt, dass ich hier das Opfer der Umstände bin. Zum Glück bin ich aus diesem Alptraum irgendwann aufgewacht. Schließlich lässt uns diese Opferhaltung ohnmächtig in Situationen verharren, mit Menschen zusammenbleiben, und Gefühle in Endlosschleife erleben. Wenn ich nämlich das Opfer bin, kann ich ja gar nichts ändern. Super, sehr einfach. Ich darf also jammern und mich beklagen und muss nicht mal etwas ändern. STOP! So wollen wir doch nicht wirklich leben, oder? Versteh mich nicht falsch, natürlich passieren schreckliche Dinge auf der Welt, für die du nicht die Verantwortung hast und vielleicht ist dir auch schon Schlimmes passiert, was du nicht beeinflusst hast. Aber wie du dann damit umgehst, ist wieder unter deiner Kontrolle und nach einer gewissen Zeit, in der man die Emotionen und das Leiden auch willkommen heißt und nicht verdrängt, kommt irgendwann die Zeit, das Leben wieder in die Hand zu nehmen. Wenn wir es dann schaffen, mit Selbstmitgefühl auf das, was wir erleben, zu blicken, werden die negativen Emotionen gar nicht mehr überwältigend auf uns einprasseln oder uns gar wie eine Welle den Boden unter den Füßen wegziehen. Es ist mehr wie eine sanfte Welle, die zwar unsere Füße umspült, aber nicht stark genug ist, um uns unter sich zu begraben. Mir passieren, wie uns allen, immer noch Dinge, die ich gerne anders hätte. Ich habe manchmal immer noch Gefühle, die ich nicht haben möchte. Mal fühle ich mich einsam, ungerecht behandelt, nicht gesehen, ängstlich und wütend, weil ich diesem ängstlichen Teil von mir, so viel Macht über mein Leben gebe. Aber wenn diese Gefühle kommen, lasse ich sie DA SEIN. Ich schenke ihnen, wie einem Gast einen Tee ein, sage ihm WILLKOMMEN, schaue genau hin und frage ihn, warum er zu Besuch ist und was er für eine Botschaft für mich hat. Meistens freut er sich, gesehen zu werden, dann hat er meistens eine liebevolle Botschaft für mich, die ich mir gerne anhöre und damit auch die Bereitschaft entwickle, mich selber für etwas einzusetzen. Ich erwarte nicht mehr, dass andere sich für mich einsetzen, ich tue es selbst, und so schließt sich der Kreis zur Selbstfürsorge. Wenn ich nicht mehr von anderen erwarte, dass sie sich um meine Gefühle kümmern oder sich für meine Bedürfnisse einsetzen, sondern die Dinge selber in die Hand nehme, zeige ich mir gegenüber Selbstfürsorge. Das Tolle an dieser Selbstfürsorge ist, dass ich, wenn ich für mich selber eingetreten bin, ein großartiges Gefühl der Selbstwirksamkeit spüre. Ich bin dem Leben nicht ausgeliefert, sondern gestalte es selbst ganz aktiv mit. Mit dem Gefühl der Selbstwirksamkeit gewinne ich natürlich Stärke, die zur Erreichung ihrer Ziele nicht kämpfen muss, sondern wie eine Kriegerin ihre Kämpfe bewusst auswählen kann. Pick your fights, wie die Amerikaner sagen. Dann gelingt mir hoffentlich auch, dieses mir selbst gegenüber erbrachte Mitgefühl in diesen Auseinandersetzungen meinen Mitmenschen gegenüber zu zeigen. Aber wie man auch im Flugzeug aufgefordert wird, die Sauerstoffmaske im Notfall zuerst sich selber aufzusetzen, bevor man anderen hilft, versorge ich auch erstmal mich selbst mit Mitgefühl und Selbstfürsorge, bevor ich wie eine Biene andere damit bestäube und hoffentlich so zu mehr Mitgefühl auf der Welt beitrage. Wir sind schließlich alle eins und ein wichtiger Beitrag zum Frieden der Welt besteht darin, erstmal sich selber zu retten. Und wie schon Gandhi sagte: „Ich bin nicht etwa unfähig, Angst zu empfinden, aber ich bin erfolgreich darin, bei möglichst jedem Anlass meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen.“ Das Selbstmitgefühl ermöglicht mir die Annahme aller Gefühle und den bewussten Umgang mit ihnen. Bevor ich also zum Beispiel in der Wut jemanden anbrülle oder sogar handgreiflich werde, sollte ich erkennen: „Das ist aber auch ein schwieriger Moment.“ Und dann fragen: „Was würde mir jetzt gut tun?“ Das Eingestehen der schwierigen Situation und die Erforschung dessen, was mir jetzt helfen würde, und es mir selbst dann auch zu geben und nicht darauf zu warten, dass es ein andere für mich erledigt, sind erste Schritte, mich und mein Leben so anzunehmen wie es ist und selbst für mich da zu sein. Leiden gehört eben zum Leben dazu. Schon unsere Kinder sollten Selbstmitgefühl erlernen, um eine Strategie für die schwierigen und leidvollen Situationen im Leben zu haben. Selbstmitgefühl ist der Anfang einer liebevollen Beziehung mit sich selbst und daraus erwächst dann auch das Mitgefühl für meine Mitmenschen und die Welt. Wünschen wir uns nicht mehr Mitgefühl auf dieser Welt und auch für diese Erde? Fangen wir bei uns selbst an und schenken wir uns selbst genug Mitgefühl!